Gemeinderatsprotokolle seit 2002
Jahr: 2013
/ Ausgabe: 14-November-gsw.pdf
- S.12
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Es ist einmal das gerade zurückliegende
75-jährige Gedenken an die Pogromnacht
im November 1938. Sie gilt im nationalsozialistischen Österreich und Deutschland als
der erste sichtbare Beginn der gezielten
systematischen Verfolgung und Vernichtung
von Juden und Jüdinnen. Das hat auch in
der Stadt Innsbruck besonders grausame
Spuren hinterlassen.
Ein zweiter Anlass ist der Wandel der offiziellen kollektiven Erinnerungskultur. Man
sieht an der aktuellen Debatte, dass sich
dies auch in Tirol, spät aber doch, langsam
verändert. Der dritte Anlass ist ein gewisser
Stolz auf diese Stadtführung, der wir bekanntermaßen angehören. In Sachen Erinnerungskultur hat sich einiges verändert
und verändert sich weiter. Das begann bereits in den letzten Jahren, aber man spürt
es jetzt besonders.
Ein deutscher Kulturwissenschaftler hat
einmal geschrieben: "In ihrer kulturellen
Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: Für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden lässt,
sagt etwas aus über das, was sie ist und
worauf sie hinaus will."
Gemeinschaften, seien es politische, kulturelle oder auch wirtschaftliche, haben per se
kein Gedächtnis, sie schaffen sich eines.
Und sie schaffen sich mit diesem Gedächtnis eine gewisse Identität. Gemeinschaften
brauchen das.
Gemeinschaften können sich nur selbst
verstehen, ihre Handlungen abwägen und
Optionen für die Zukunft begründen, wenn
sie in der "Zeit", d. h. zwischen vergangener
und kommender Geschichte, zwischen Erfahrung und Erwartung, ihren Ort bestimmen. Gemeinschaften entwickeln dabei
Erinnerungskultur als Gesamtheit der Ausdrucksformen und sozial zugelassenen
Umgangsformen. Damit halten sie Teile
ihrer Vergangenheit im Bewusstsein und
vergegenwärtigen sie gezielt.
Die öffentliche Erinnerungskultur z. B. einer
Stadt drückt sich in dem aus, was etwa archiviert, wissenschaftlich aufbereitet und
öffentlich dokumentiert wird, aber auch in
Gedenktagen, Denkmälern und anderem
mehr.
All diese Ausdrucksformen sollen bestimmte
Personen, aber auch bestimmte Ereignisse
GR-Sitzung 21.11.2013
der Geschichte wach halten. Dieses Wachhalten sagt aber oft weniger über die Geschichte, die wachgehalten werden soll,
aus, als viel mehr über unsere gegenwärtige Identität und unsere Zukunftsvorstellung.
Das heißt, an welche Vergangenheit wir uns
heute erinnern und als Politik im öffentlichen
kollektiven Bewusstsein halten oder hervorheben wollen, zeigt auch, wo wir hin wollen.
Insofern hat unsere Zukunft Geschichte,
haben unterschiedliche Zukunftsentwürfe
auch unterschiedliche Erinnerungsschwerpunkte.
Öffentliche Erinnerung ist sehr oft mit der
Legitimation von Macht und nationaler Identitätsstiftung verbunden. Das zeigt sich
dann, wenn in Regimen oder in Staaten
Wechsel vor sich gehen, die mit Denkmalstürzen verbunden sind. Dort wird sich ein
neues Regime andere Denkmäler und andere HeldInnen kreieren.
In der Stadt Innsbruck oder in Tirol hat es
keine Regimewechsel mit Denkmalstürzen
gegeben. Aber ich denke, es hat doch in
den letzten Jahren, langsam aber sicher - in
Tirol, behaupte ich jetzt einmal, langsamer
als in der Stadt Innsbruck - eine Art Paradigmenwechsel gegeben. Sehr schön ist
das z. B. beim Andreas-Hofer-Mythos herausgekommen.
Andreas Hofer war ja sehr lange die identitätsstiftende Geschichtserzählung für Tirol.
Sie war auch sehr eng mit der hegemonialen Partei, der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), verbunden. Die Macht der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) hat sich ja
teilweise über den Hofer-Mythos legitimiert.
Mit dem Schwinden dieser Macht der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ist auch der
Hofer-Mythos etwas ins Wanken geraten.
Ich erinnere nur an die recht spannenden
und interessanten Debatten anlässlich des
Gedenkjahres 2009.
Parallel dazu kommen langsam natürlich
immer mehr aktuellere, auch dunklere Flecken unserer Geschichte in den Vordergrund. Wir wissen ja alle, Österreich hat
nach dem Jahr 1945 den Opfer-Mythos kreiert, um die österreichische Geschichte von
der deutschen abzukoppeln. Das, um sich
vor der Aufarbeitung und der Übernahme
von Verantwortung zu drücken. Diese Blase
ist vor vielen Jahren praktisch mit der Waldheim-Affäre geplatzt.